Fast jedem von uns ist in der Schule, im Schwimmbad oder auf der Straße schon mindestens einmal eine Person begegnet, die man rein äußerlich keinem Geschlecht zuordnen konnte: In Deutschland sollen laut Schätzungen etwa 0,2 Prozent der Bevölkerung intersexuell sein. Lange Zeit haben diese Personen im alltäglichen Bewusstsein zahlreicher Menschen ein Schattendasein geführt, doch seit Beginn des Jahres 2019 wird vielen deren Existenz bereits bei der Lektüre oder Erstellung von Stellenangeboten ins Gedächtnis gerufen.

Wie eine Statistik von 2018 nahelegt, haben sich möglicherweise viele von euch – ob Jobsuchender, Arbeitnehmer oder Chef – noch nie tiefergehend mit dem Phänomen des „dritten Geschlechts“ beschäftigt. Ist es überhaupt gerechtfertigt, von einem „dritten Geschlecht“ zu sprechen? Welchen Bedingungen waren solche Personen in der Vergangenheit ausgesetzt, und welches Schicksal kann dahinterstecken, wenn uns im Vorstellungsgespräch ein Bewerber gegenübersitzt, den man in keine der beiden gängigen Schubladen stecken kann?

Die aktuelle Situation des Geschlechts divers

In Deutschland kommen pro Jahr ca. 150 Kinder zur Welt, deren Geschlecht sich nicht eindeutig zuordnen lässt. Einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 2017 ist es zu verdanken, dass im Geburtenregister keine Diskriminierung intergeschlechtlicher Menschen mehr erfolgen darf. Die entsprechende gesetzliche Regelung wurde Ende Dezember 2018 im § 22 PStG Abs. 3 verankert. „Intergeschlechtlich“ werden Menschen übrigens genannt, wenn anhand ihres Aussehens nicht beurteilt werden kann, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelt.

Beim Standesamt bestand seit 2013 die Möglichkeit, die Angabe eines Geschlechtes wegzulassen. Dies jedoch verstößt laut dem genannten Urteil gegen das Persönlichkeitsrecht („Denn eine geschlechtliche Identität hat jeder Mensch, auch wenn sie manchmal nicht ganz eindeutig ist.“ (Quelle: SZ)). Eine im Jahr 2018 durchgeführte Umfrage zur Einführung eines dritten Geschlechts ergab übrigens, dass nur 27 % der Befragten eine solche voll und ganz befürworteten.


Fakten zum dritten Geschlecht

Eine drastische Vereinfachung

Während die Kategorien „männlich“ oder „weiblich“ recht simpel anhand bestimmter Körpermerkmale definiert werden können, gibt es bei dem dritten Geschlecht die unterschiedlichsten Ausprägungen: Mal findet sich das eine männliche oder weibliche (zusätzliche) Merkmal, und das in den unterschiedlichsten Kombinationen: Jetzt.de schreibt gar von 3000 unterschiedlichen Ausprägungen. Wenn also von einem „dritten Geschlecht“ geredet wird, dann ist dies eine drastische Vereinfachung. Die einzelnen Syndrome – denn zu solchen werden intersexuelle Personen von der Medizin deklariert, was einer Pathologisierung entspricht – werden beispielsweise auf xy-frauen.de erläutert.


Leidenswege derer, die weder Frau noch Mann sind

1. Seit der Geburt intersexuell

Bei manchen Menschen, die sich keinem Geschlecht zuordnen lassen, wird bereits kurze Zeit nach der Geburt eine operative Angleichung vorgenommen – auf Anraten von Ärzten. Tendenziell sind solche Operationen in den letzten Jahren zurückgegangen, doch nach wie vor sind sie legal. Eine Tatsache, gegen die etwa der Verein „Intersexuelle Menschen e. V.“ ankämpft. Als Konsequenz einer derartigen OP können nämlich vielerlei negative Begleiterscheinungen auftreten:

  • Manche Betroffenen können sich nach der Pubertät nicht mit dem erzwungenen Geschlecht identifizieren.
  • Häufig totgeschwiegen, doch tragisch: Durch die bei den Operationen vorgenommenen Genitalveränderungen kann eine sexuelle Empfindsamkeit entweder stark abgeschwächt oder sogar nicht vorhanden sein.
  • In vielen Fällen wird dem Kind nicht erzählt, dass es als Baby operiert wurde. Trotzdem spürt es, dass etwas an ihm „anders“ ist.
  • Zahlreiche Personen benötigen aufgrund der durchgeführten Operation jahrelange Hormontherapien. Dies führt dazu, dass viele der Intersexuellen ihr Leben lang sowohl physisch als auch psychisch leiden. Und als wäre es der Ungerechtigkeit noch nicht genug: Häufig übernehmen die Krankenkassen die Kosten für Therapien nicht einmal.

2. Eindeutiges Geschlecht bei Geburt, doch Wandlung in der Pubertät

In manchen Fällen wiederum verläuft die Sache anders: Bei der Geburt lässt sich ein eindeutiges Geschlecht feststellen, doch später verändert sich der Körper. Dies ist mit zahlreichen Problemen verbunden: Wie wird mit einem Klassenkameraden umgegangen, der bislang die beste Freundin gewesen ist, nun aber plötzlich eine männliche Pubertät durchlebt?

Personen, die ihr eigentliches Geschlecht im Verlauf ihres Lebens erkennen, lassen daraufhin teilweise eine entsprechende Operation vornehmen. Doch nicht immer führen die Operationen zum gewünschten Resultat, das beispielsweise eine erfüllte Partnerschaft ermöglicht.


Mismatch des eigenen Erscheinungsbilds mit dem eigenen Namen

Alltägliche Geschehnisse wie etwa die vielen Missverständnisse, zu denen das Aussehen eines intersexuellen Kindes führen kann, sorgen nicht selten für Traumata: So wird beispielsweise von einem Fall berichtet, in dem der neue Klassenlehrer, nachdem er den Namen eines Mädchens aufgerufen hatte, nicht glauben wollte, dass es sich bei der Person, die aufstand, um den richtigen Schüler handelte.

Die Anpassung des eigenen Namens ist aufgrund solcher unangenehmer Missverständnisse neben einer Operation eine weitere Maßnahme, die von erwachsenen intersexuellen Personen häufig durchgeführt wird.


Die Suizidrate…

… intersexueller Menschen soll besonders hoch sein. Auch würden sich diese Personen häufig zurückziehen und hätten deshalb Schwierigkeiten, beruflich oder in ihrer Bildungslaufbahn Fuß zu fassen. Dies lässt sich gut nachvollziehen, wenn man sich vergegenwärtigt, wie sich ein Mensch fühlen muss, der oft bereits von Kindesalter an ausgelacht oder schräg angeschaut wurde und sich daraufhin in so gut wie allen Lebensbereichen wie Beziehungen, Bildungseinrichtungen oder Beruf mit einer Welt konfrontiert sieht, in der es keinen Platz für ihn zu geben scheint.


Ein paar Begriffserklärungen

Zur näheren Bezeichnung von Personen des diversen Geschlechts gibt es zahlreiche Begrifflichkeiten, von denen im Folgenden ein paar kurz erklärt werden sollen.

  • agender: Diese Menschen fühlen sich geschlechtslos.
  • bigender: Jemand identifiziert sich mit zwei Geschlechtern.
  • genderfluid: Die Geschlechtsidentität einer Person ist veränderlich. Beispielsweise kann sich die Geschlechtszugehörigkeit in bestimmten Situationen ändern.
  • i: Das ist die Abkürzung für „intersexuell“.
  • nichtbinär oder nicht-binär: Dieses Wort drückt aus, dass jemand weder ausschließlich männlich noch weiblich ist. „Nichtbinär“ ist ein Überbegriff für unterschiedliche Geschlechter wie zum Beispiel androgyn, genderfluid, genderqueer etc.
  • X: Das ist die internationale Abkürzung für das diverse Geschlecht. Sie kann in den Reisepass eingetragen werden.
Geschlecht divers
Bildquelle: www.istockphoto.com / Iuliia Kanivets

Das Geschlecht divers in der Praxis

Warum lassen viele Betroffene das Geschlecht divers nicht eintragen?

Wie unterschiedliche Quellen zeigen, herrscht bei den Änderungen im Personenstandsregister bislang Zurückhaltung. Doch ist diese nicht unbegründet:

  • Im Normalfall ist eine solche Änderung an eine Attestpflicht geknüpft. Ein Arzt muss einen Nachweis erstellen, der bescheinigt, dass es sich um eine genetisch bedingte Intersexualität handelt. Bereits die Untersuchung zur Erlangung dieses ärztlichen Attests kann laut aerzteblatt.de jedoch „bei betroffenen Menschen, die in der Vergangenheit in eine „Normgeschlechtlichkeit hineinbehandelt“ worden seien, zu einer „Retraumatisierung“ führen“. In Ausnahmefällen ist es daher möglich, eine entsprechende eidesstattliche Versicherung abzugeben.
  • Ein weiterer Grund, der Betroffene zur Zurückhaltung bei einer solchen Änderung bewegen kann, ist eine mögliche Benachteiligung im Ausland.

Warum sind viele Arbeitgeber dazu übergegangen, die Geschlechtsbezeichnung „divers“ in Stellenanzeigen aufzunehmen?

Arbeitsfähige Menschen, die ihren Lebensunterhalt finanzieren wollen, müssen sich erst einmal auf die eine oder andere Jobanzeige bewerben. Aus diesem Grund ist es nicht nur zentral, dass auch intersexuelle Menschen in Stellenanzeigen angesprochen werden, sondern dass diese im Bewerbungsprozess auch dieselben Chancen haben. Gesetzlich ist es nicht geregelt, dass Stellenanzeigen die Angabe „divers“ oder „d“ enthalten müssen. Doch: Wenn sich ein abgelehnter Bewerber von einer Stellenanzeige diskriminiert fühlt, könnte dieser theoretisch Schadensersatz verlangen, was für die Firmen teuer kommen kann. Die Basis einer solchen Schadensersatzforderung ist der Verweis auf das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz: Dieses verbietet Arbeitgebern, Angestellte und Bewerber aufgrund ihres Geschlechts zu benachteiligen. Aus diesem Grund lautet die allgemeine Empfehlung von Juristen, bei Stellenanzeigen stets den Zusatz m/w/d zu ergänzen. Doch damit noch nicht genug: Auch in Formularen sollte darauf geachtet werden, möglichst frei auszufüllende Felder zu bieten.


Sprachliche Herausforderungen

  • Beim Umgang mit einer intersexuellen Person kommt es zu sprachlichen Verunsicherungen: Welches Personalpronomen soll gewählt werden? Bevorzugt der Mensch „er“ oder „sie“?
  • Bei der Formulierung von Stellenangeboten steht man vor dem Problem, dass es beispielsweise keine sächliche Form des Wortes „Mitarbeiter“ gibt. In manchen Bereichen besteht die Möglichkeit, auf die Angabe allgemeiner Tätigkeitsbereiche auszuweichen wie z. B. Geschäftsführung. Doch in vielen anderen Fällen wirkt eine Stellenanzeige unnatürlich. Eine Alternative für Beschäftigte der HR-Abteilung, die das „d“ oder „i“ gewöhnungsbedürftig finden: Symbole wie der Genderstern (*) oder der Unterstrich (_). Doch auch eine Gleichsetzung intergeschlechtlicher Menschen mit Symbolen kann als diskriminierend empfunden werden.
  • Ein weiteres Problem: Wie soll ein intersexueller Mensch in einem Brief oder in einer E-Mail angesprochen werden? Sekretaria.de empfiehlt unter anderem, zum Telefonhörer zu greifen und nachzufragen, welchem Geschlecht sich die Person näher fühle. Da es sich bei intersexuellen Menschen um Ausnahmen handelt, fällt ein solches Nachfragen auch zeitlich nicht ins Gewicht. Auch dürfte eine derartige Frage nicht als distanzlos empfunden werden, wenn die Person schließlich angegeben hat, „divers“ zu sein. Allerdings dürfte das Stellen dieser Frage für viele Sachbearbeiter mit einem unguten Gefühl verbunden sein, da die intersexuelle Person möglicherweise genau aus dem Grund angegeben hat, „divers“ zu sein, da eine Zuordnung zu einem der beiden gängigen Geschlechter eben nicht möglich ist.
  • Eine weitere Option: Will man gern eine geschlechtsneutrale Anrede verwenden, kann man beispielsweise das Gendersternchen verwenden, sodass die Anrede folgendermaßen lauten würde: „Sehr geehrt* …“.

Unisex-Toiletten – etwas ganz Altes kommt wieder in Mode

Arbeitsrechtlich sieht es aktuell folgendermaßen aus: Beschäftigt ein Betrieb bis zu 9 Mitarbeiter, ist es in Ordnung, wenn ausschließlich eine Unisex-Toilette zur Verfügung steht. Ansonsten sind laut Arbeitsstättenverordnung geschlechtergetrennte Toiletten Pflicht. In Sachen Toiletten werden diverse Personen gesetzlich bisher nicht berücksichtigt.

Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2018 will die Mehrheit der Personen, dass die gängigen Männer- und Frauentoiletten beibehalten werden sollen und sich intersexuelle Personen für die Toilette ihrer Wahl entscheiden. Für intersexuelle Personen ergeben sich aus dieser Trennung der Toiletten allerdings Probleme: Beispielsweise können sie bei Aufsuchen einer Damentoilette dazu aufgefordert werden, doch bitte auf die Herrentoilette zu gehen oder umgekehrt.

Vereinzelt sind öffentliche Einrichtungen wie Grundschulen oder Universitäten dazu übergegangen, zusätzlich Unisex-Toiletten anzubieten. Für viele Firmen ist eine derartige Umsetzung allerdings mit einem hohen baulichen Aufwand verbunden.

Historisch gesehen war die Unisex-Toilette der Normalfall, bis in Großbritanniens viktorianischer Epoche eine räumliche Trennung der Geschlechter eingeführt wurde. Hintergrund dafür waren bestimmte Moralvorstellungen wie der Schutz des „guten Rufes“ der Damen.


Der Umgang mit intersexuellen Personen – Fakten aus der Geschichte

  • Im alten Rom kam es teilweise zur Verehrung intersexueller Menschen als Gottheiten oder aber zu deren ritueller Ermordung.
  • In der griechischen Mythologie erscheint eine Figur, die sowohl männlich als auch weiblich ist: Hermaphroditos. Von dem Namen dieser Figur kommt auch der Ausdruck „Hermaphrodit“. (Als solche oder als „Zwitter“ können sich laut Angabe des Vereins „Intersexuelle Menschen e. V.“ Betroffene selbst bezeichnen. Diese Begrifflichkeiten eignen sich aber nur zur Eigenbezeichnung von Personen, während es die Mehrheit als beleidigend empfinden dürfte, so genannt zu werden.)
  • Im Mittelalter hatten intersexuelle Personen mit der Inquisition zu rechnen oder mussten sich für eines der beiden Geschlechter entscheiden.
  • Zu Zeiten der Aufklärung wurde Angehörigen des „dritten Geschlechts“ die Täuschung ihrer Umwelt mit dem Ziel besonderer sexueller Aktivitäten unterstellt.
  • Das Preußische Allgemeine Landrecht aus dem Jahre 1794 regelte bei Nichtzuordenbarkeit eines Babys zu einem Geschlecht eine Festlegung des Geschlechts durch die Eltern. Nach dem sogenannten „Zwitterparagraf“ konnte der Betroffene dann aber selbst entscheiden, welchem Geschlecht er sich zugehörig fühlte.
  • Erst seit Beginn des 19. Jahrhunderts wird die Intersexualität von Personen gesetzlich als Anomalie angesehen.

Fazit

Da intersexuelle Personen mit zahlreichen Ungerechtigkeiten zu kämpfen haben, war die Änderung des PStG gewiss ein Schritt in die richtige Richtung, auch wenn eine Abschaffung der Attestpflicht begrüßenswert wäre: Von einem Missbrauch der Eintragungsmöglichkeit ist wohl eher nicht auszugehen.

Wichtig für eine Minimierung der Ungerechtigkeit intersexuellen Personen gegenüber ist zudem, dass Intersexualität nicht als Krankheit wahrgenommen wird: Laut diverser Quellen werden die allermeisten betroffenen Personen als gesunde Babys geboren und bedürfen auch im Laufe ihres Lebens keiner speziellen Behandlung. Aus diesem Grund ist ein Verbot medizinisch nicht notwendiger Operationen ohne Einwilligung des Patienten aus der berechtigten Sicht Vieler überfällig: Schließlich wird in Deutschland auch keine anderweitig motivierte Genitalverstümmelung toleriert.

Die Nichtberücksichtigung dieser Bevölkerungsgruppe in der deutschen Sprache ist eine weitere Baustelle: Über den Sinn oder Unsinn unterschiedlicher sprachlicher Mittel zur Gleichbehandlung nichtbinärer Personen wird heftig diskutiert, und das nicht ohne Grund: Während die einen Betroffenen auf ihr Recht pochen, etwa in Stellenanzeigen angesprochen zu werden, wollen manche andere möglicherweise gar nicht so sehr im Mittelpunkt stehen, beispielsweise weil sie zur diesbezüglichen Zurückhaltung erzogen wurden oder sich bewusst sind, zu einer Minderheit zu gehören.

Transsexuelle Menschen, also Personen, die sich nicht mit ihrem jeweiligen Geschlecht identifizieren können, werden von der erwähnten gesetzlichen Neuregelung im Übrigen nicht berücksichtigt. Das ist problematisch, da Geschlechtszugehörigkeit laut Meinung Betroffener nicht als ausschließlich biologische Angelegenheit betrachtet werden dürfe.

Außerdem bestehen in der praktischen Integration intersexueller Personen in die unterschiedlichsten Einrichtungen und Systeme Unsicherheiten bzw. Gesetzeslücken, die uns gespannt auf weitere Gesetzesänderungen warten lassen.

Quellen:

de.statista.com, swr.de, im-ev.de, tagesspiegel.de, ze.tt, zeit.de, humanresourcesmanager.de, spezialinfo.com, de.wikipedia.org

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Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwenden wir die männliche Form (generisches Maskulinum), z. B. „der Mitarbeiter“. Wir meinen immer alle Geschlechter im Sinne der Gleichbehandlung. Die verkürzte Sprachform hat redaktionelle Gründe und ist wertfrei.