Viermal rosa: Der Alltag einer Fachkraft in der Behindertenpflege
Mittwochabend. 22 Uhr. Kerstin Sonnenfeld (Name von der Redaktion geändert) beginnt ihre Nachtschicht in der Pflegeeinrichtung. Dort steht zunächst einmal die Übergabe an: Der vorangegangene Dienst berichtet ihr von aktuellen Ereignissen, ob es tagsüber Komplikationen gab und informiert sie darüber, ob jemand besonders beobachtet werden muss. Danach macht Kerstin ihre üblichen Kontrollgänge, bringt die Patienten ins Bett, verabreicht Medikamente und Injektionen und ist während der Nacht allzeit bereit, falls jemand Hilfe benötigt. Insgesamt 35 Bewohner pflegt Kerstin in der Nachtschicht. Sie arbeitet in einem 3-Schicht-System, welches eine bestmögliche Betreuung ermöglichen soll.
Inhaltsverzeichnis
Kerstin Sonnenfeld wusste schon immer, dass sie mit Menschen zusammenarbeiten und helfen möchte. Nach ihrer Ausbildung zur Ergotherapeutin und zwanzigjähriger Tätigkeit in diesem Beruf, wollte sie etwas Neues ausprobieren. Sie fing als Pflegehelferin in einem Pflegeheim an und machte dort eine berufsbegleitende Ausbildung zur Fachkraft. „Ich war neugierig und wollte wissen, ob die Pflegebranche etwas für mich ist“, erzählt sie bei unserem Interview, während sie die 24-jährige, körperlich und geistig behinderte Emma liebevoll mit Schokoladeneis füttert. Sie betreut die junge Frau nebenberuflich als häusliche Pflegeassistenz.
Später wechselte Kerstin zur Pflege von Wachkomapatienten. Eine sehr intensive Zeit für sie. Doch bei all der Traurigkeit, die sie täglich umgab, erlebte sie auch sehr berührende Momente. „Es gab da einen Mann, der sechs Jahre lang jeden Tag seine Frau besuchte, die im Wachkoma lag. Er kümmerte sich so liebevoll und rührend um sie, sprach mit ihr, legte ihre Beine hoch. Sobald man ihn für seine Fürsorge lobte, winkte er ab und sagte immer nur: ‚Jeder macht es so, wie er kann.‘ Er sprach niemals schlecht über andere Menschen, die sich um ihre Liebsten nicht so kümmern konnten, wie er es tat.“
Eine Sprache, die nicht jeder spricht
Heute arbeitet Kerstin in der stationären Behindertenpflege und ist derzeit auf Menschen mit geistigen Behinderungen spezialisiert. Zusätzlich hat sie einen Nebenjob als häusliche Pflegeassistenz, wo sie Emma betreut, die bei unserem Interview dabei ist. Emma hat eine Tetraspastik und ist Epileptikerin – eine Behinderung infolge eines Sauerstoffmangels bei der Geburt. Früher kommunizierte sie mit einem Sprachcomputer, mittlerweile hat sie jedoch keine Lust mehr dazu. Emma spricht ihre eigene Sprache, die Kerstin mittlerweile mühelos versteht. „Viermal rosa heißt so viel wie super“, erklärt sie mir. „Und ihren Freund Herbert nennt sie immer Juni.“ Sobald wir über Juni sprechen grinst Emma von einem Ohr zum anderen. Sie ist total verliebt und jeder darf es sehen.
„Menschen, die trotz Einschränkungen ein sonniges Gemüt bewahren und das Beste aus ihrer Situation machen, sind ein tolles Vorbild für die sogenannten ‚Gesunden‘“, sagt Kerstin. Als ich sie nach einem konkreten Beispiel frage, erzählt sie mir von einer halbseitig gelähmten Frau in ihrer Einrichtung, die totaler Borussia Dortmund Fan ist, was man beim Betreten ihres Zimmers schon an der Bettwäsche erkennen kann. „Sie hat so eine positive Ausstrahlung und freut sich immer sehr darüber, wenn Dortmund mal wieder gewonnen hat.“
Wertschätzung ist etwas, das Kerstin sehr am Herzen liegt. „Egal, woher du kommst, ob du dick oder dünn bist, groß oder klein – wir sind alle gleich und jeder verdient Respekt und Zuneigung.“ Pflege ist für sie etwas Ganzheitliches, denn der Mensch ist Körper, Geist und Seele zugleich.
„Natürlich ist es auch ein schönes Gefühl, gebraucht zu werden.“
6:30 Uhr morgens. Kerstin hat Feierabend – oder in ihrem Fall Feiermorgen? Der Nachtdienst ist anstrengend, doch wenn sie weiß, dass sie ihre Aufgaben erledigt hat und alle gut geschlafen haben, ist sie zufrieden und glücklich. Trotz allem ist sie froh, damals die Entscheidung getroffen zu haben, in die Pflegebranche zu wechseln. „Als Ergotherapeutin hatte ich immer ein Ziel, welches ich mit den Menschen erreichen musste. Unsere Zusammenarbeit musste irgendwo hinführen. Jetzt ist mein bloßes ‚Dasein‘ schon genug. Das ist ein schönes Gefühl.“ Kerstins Patienten sind glücklich, wenn sie einfach nur bei ihnen ist und ihnen durch den Alltag hilft. Sobald Kerstin einmal im Urlaub ist, wird sie auf der Station schmerzlich vermisst. „Wo warst du so lange?“ wird dann nachgefragt. Erst vorwurfsvoll, doch dann überwiegt die Wiedersehensfreude.
Für die Zukunft der Pflegebranche wünscht sich Kerstin praxisnahe Richtlinien zur Heimaufsicht, die machbar und umsetzbar sind und dann auch realisiert werden. Dies betrifft zum Beispiel die personelle Besetzung, die leider häufig sehr ausbaufähig ist. Fairness und tarifgerechte Bezahlung der Pflegekräfte sind ihr an einem Arbeitgeber wichtig. Mit der Einrichtung, in der sie arbeitet, ist Kerstin allerdings sehr zufrieden. „Meiner Meinung nach sind die Menschen hier bestmöglich untergebracht. Sie werden wertschätzend behandelt, die Zimmer sind freundlich und hell, zudem wird hier sehr auf gesunde Ernährung und Bio-Produkte geachtet. Außerdem machen wir viele Ausflüge zusammen, feiern Geburtstage, basteln, musizieren und malen gemeinsam.“
Fachkräfte werden weiterhin dringend gesucht
Menschen, die mit dem Gedanken spielen, in der Pflegebranche zu arbeiten, rät sie, dies nicht ohne Ausbildung zu tun. „Auch nach der Ausbildung empfehle ich ständige Weiterbildung in diesem Bereich“, sagt sie und spricht dabei aus eigener Erfahrung. „Wichtig ist außerdem, einen achtsamen Umgang mit den Mitmenschen zu erlernen. Stressbewältigung durch Achtsamkeit ist in diesem Beruf ebenfalls ein wichtiges Thema. Zudem sollte man immer auf seine eigenen Grenzen achten und lernen, auch mal ‚Nein‘ zu sagen.“
Emma nickt zustimmend, während Kerstin erzählt. Wie viel sie wirklich von unserer Unterhaltung versteht, weiß ich nicht. Was ich allerdings weiß, ist, dass Kerstin und Emma sich gut verstehen. Trotz Einschränkungen. Trotz Geheimsprache. „Mit der Zeit weiß man einfach, was sie erzählen möchte“, sagt Kerstin, während sie ihr noch einen Löffel Eis gibt. Emma freut sich. Über das Eis. Über Juni. Und darüber, dass Kerstin ihr zuhört. Auch ohne große Worte.
Dieser Artikel ist Teil einer Serie. Weitere Einblicke in die Pflegebranche folgen in Kürze.
Aktuelle Jobangebote in der Pflege
Aus Gründen der besseren Lesbarkeit verwenden wir die männliche Form (generisches Maskulinum), z. B. „der Mitarbeiter“. Wir meinen immer alle Geschlechter im Sinne der Gleichbehandlung. Die verkürzte Sprachform hat redaktionelle Gründe und ist wertfrei.
Marina ist Redakteurin, Content-Managerin & Autorin. Sie hat Romanische Sprachen, Literatur & Linguistik an der Ludwig-Maximilians-Universität München studiert. Schreiben ist für sie nicht nur ein Beruf, es ist auch ihre große Leidenschaft. Für careeasy – Dein Karrieremagazin von stellenanzeigen.de schreibt Marina freiberuflich über Themen rund um Bewerbung, Karriere und Persönlichkeitsentwicklung.