BEM bei krankheitsbedingter Kündigung
10.04.2007
§§ 1 Abs. 1 und 2 KSchG; § 102 Abs. 1 BetrVG; § 84 Abs. 2 SGB IX
Bei völliger Ungewissheit der Wiederherstellung der Arbeitskraft eines Langzeitkranken führt die Nichtdurchführung des betrieblichen Eingliederungsmanagements nach § 84 Abs. 2 SGB IX nicht zur Unwirksamkeit der personenbedingten Kündigung eines nicht schwerbehinderten Arbeitnehmers, wenn die Möglichkeit der Versetzung auf einen alternativen, leidensgerechten Arbeitsplatz nicht besteht.
LAG Hamm, Urteil vom 29. März 2006 ? 18 Sa 2104/05
Problempunkt
Die Parteien streiten über die Wirksamkeit einer krankheitsbedingten Kündigung. Der klagende Arbeitnehmer war bei dem beklagten Arbeitgeber als Maschinenbediener beschäftigt. Nach einem Bandscheibenvorfall war er über einen Zeitraum von 2 ½ Jahren arbeitsunfähig erkrankt. In dieser Zeit führten zwei Operationen sowie ambulante Rehabilitationsmaßnahmen zu keiner wesentlichen Besserung des Gesundheitszustands. Der Mitarbeiter selbst trug vor, er könne nicht absehen, wann sich sein Zustand bessern werde. Krankenunterlagen brachte er trotz mehrfacher Aufforderung durch den Arbeitgeber nicht bei, so dass auch der Werksarzt keine Stellungnahme zu seinem Gesundheitszustand abgeben konnte. Schließlich kündigte das Unternehmen das Arbeitsverhältnis mit Zustimmung des Betriebsrats wegen der Dauererkrankung sowie der völligen Ungewissheit darüber, wann die Arbeitsfähigkeit wieder hergestellt sein würde. Der Arbeitnehmer klagt nun bereits in zweiter Instanz auf Kündigungsschutz und Weiterbeschäftigung.
Entscheidung
Das Landesarbeitsgericht stellte die Rechtmäßigkeit der Kündigung fest. Bei Zugang war der Arbeitnehmer ohne Unterbrechung 2 ½ Jahre und damit langzeitkrank. Der Zeitpunkt seiner Genesung und damit die Arbeitsaufnahme konnten nicht prognostiziert werden. Wegen dieser Ungewissheit läge eine erhebliche Beeinträchtigung der Arbeitgeberinteressen vor. Diese gingen auch bei sorgfältiger Interessenabwägung den Belangen des Arbeitnehmers vor. Eine Versetzung des Klägers auf einen adäquaten, leidensgerechten Arbeitsplatz sei nicht möglich gewesen. Es habe auch keine Verpflichtung seitens des Unternehmens bestanden, einen solchen durch Umorganisation zu schaffen. Auch die Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements nach § 84 Abs. 2 SGB IX hätte die Kündigung nicht verhindern können. Dieses dient dem Zweck, durch Rehabilitation die Kündigung langzeitkranker Arbeitnehmer zu vermeiden. Es kommt daher immer dann zum Tragen, wenn ein Arbeitnehmer innerhalb eines Jahres mehr als sechs Wochen ununterbrochen oder wiederholt arbeitsunfähig erkrankt ist. Im konkreten Fall habe man mit einer Besserung des Gesundheitszustands des Beschäftigten auf absehbare Zeit nicht rechnen können. Die Möglichkeit einer Rehabilitation sei daher langfristig auszuschließen gewesen. Zudem habe zu befürchten gestanden, dass bei Wiederaufnahme der Beschäftigung aufgrund der körperlichen Belastungen sich die vorhandene Erkrankung verschlechtern und die Beschwerden wieder aufleben würden.
Konsequenzen
Die Prüfung der Rechtmäßigkeit einer Kündigung wegen Langzeiterkrankung hat der Arbeitgeber in drei Stufen vorzunehmen. Auf der ersten Stufe muss er eine negative Prognose hinsichtlich der voraussichtlichen Dauer der Arbeitsunfähigkeit stellen. Im Falle der Langzeiterkrankung bedeutet dies, dass ausgehend vom Kündigungszeitpunkt innerhalb der nächsten 24 Monate nicht mit einer Veränderung der Situation gerechnet werden kann.
Auf der zweiten Stufe müssen aufgrund der ungewissen Rückkehr des kranken Mitarbeiters erhebliche Beeinträchtigungen der betrieblichen Belange festzustellen sein. Dies ist bei der Langzeiterkrankung regelmäßig der Fall. Etwas anderes gilt, wenn die Kündigung durch die Versetzung des Beschäftigten auf einen leidensgerechten Arbeitsplatz vermieden werden kann. Dabei muss es sich um eine gleichwertige oder zumindest zumutbare Stelle handeln, die unbesetzt ist und die der Arbeitnehmer ? unter Umständen nach entsprechender Qualifizierung ? auch ausfüllen kann. Das Unternehmen hat einen solchen adäquaten Arbeitsplatz gegebenenfalls durch Umsetzung eines anderen Mitarbeiters frei zu machen. Es ist jedoch nicht verpflichtet, einen neuen zu schaffen.
Auf der dritten Stufe muss schließlich eine sorgfältige Interessenabwägung zu dem Schluss führen, dass die festgestellten betrieblichen Beeinträchtigungen für den Arbeitgeber nicht mehr zumutbar sind. Bei einer Langzeiterkrankung fällt die Interessenabwägung nur in extremen Ausnahmefällen zugunsten des Arbeitsnehmers aus, etwa wenn er aufgrund schwerwiegender persönlicher Umstände besonders schutzbedürftig ist und dem Unternehmen die Weiterbeschäftigung unter diesen Umständen auf einem alternativen Arbeitsplatz zugemutet werden kann.
Praxistipp
Im Zusammenhang mit einer personenbedingten Kündigung wegen Langzeiterkrankung hat der Arbeitgeber stets auch die Erforderlichkeit der Durchführung eines betrieblichen Eingliederungsmanagements zu prüfen. Unklar ist bislang, ob die Regelung des § 84 Abs. 2 SGB IX nur für schwerbehinderte Menschen oder für alle Arbeitnehmer gilt. In Fällen wie dem vorliegenden kann die Streitfrage jedenfalls dahinstehen, da selbst bei Durchführung des Eingliederungsmanagements eine Kündigung des Mitarbeiters unvermeidbar gewesen wäre. Gleichwohl sollte jedoch das Unternehmen vor Ausspruch einer Kündigung wegen Langzeiterkrankung immer mit der zuständigen Schwerbehindertenvertretung, dem erkrankten Arbeitnehmer sowie bei Bedarf auch mit dem Integrationsamt alle Möglichkeiten erörtern, wie die Arbeitsunfähigkeit möglichst überwunden, mit welchen Hilfen und Leistungen einer Wiederholung vorgebeugt und damit bestenfalls der Arbeitsplatz erhalten werden kann.
Kerstin Weingarten,
Human Resource-Managerin, Kamen
Quelle: www.arbeit-und-arbeitsrecht.de